So erweitern wir unsere Fähigkeit, mitfühlend zu führen
Was begrenzt oder blockiert unser Mitgefühl? Wie können wir diese Hemmnisse beseitigen, um emotional reifere und mutigere Führungspersonen zu werden?
Dies ist die Übersetzung eines englischen Vortrags, den ich kürzlich online gehalten habe.
Das hier vorgestellte Modell unseres inneren Systems von Teilen und einem zentralen Selbst sowie die Methodik der inneren Arbeit stammen aus Internal Family Systems (IFS), einer von Richard C. Schwartz entwickelten psychotherapeutischen Methode.
Eigenschaften einer guten Führungsperson
Denkt an die Führungsperson in eurem Berufsleben, mit der ihr am liebsten zusammengearbeitet habt und die euch am meisten geholfen hat, euch weiterzuentwickeln. Vielleicht war das jemand in einer offiziellen Führungsrolle oder ein Kollege mit großen Führungsqualitäten.
Wenn euch niemand einfällt, denkt einfach an die Art von Führungsperson, an die ihr euch gerne gewandt hättet, wenn ihr vor schwierigen beruflichen Herausforderungen standet. Bei welcher Art von Führungsperson fühlt ihr euch wohl genug, um euch zu öffnen und um Hilfe zu bitten?
Vermutlich ist das jemand, mit dem ihr euch verbunden und sicher fühlt. Jemand, der Mitgefühl hat und der sich um euch kümmert. Jemand, der versucht, euch zu verstehen, ohne über euch zu urteilen.
Wahrscheinlich ist es jemand, der angesichts von Herausforderungen und Provokationen eine ruhige Präsenz bewahrt. Jemand, dem ihr vertrauen könnt, dass er auf eine reife und ausgewogene Weise reagiert. Jemand, der selbstbewusst, kreativ, mutig und klar ist und die gleichen Qualitäten in euch hervorbringt.
Zugang zu den Eigenschaften unseres zentralen Selbst
Alle diese schönen Führungsqualitäten, die ich eben erwähnt habe, sind die Eigenschaften des zentralen Selbst, das in jedem von uns existiert. Ja, wir alle haben ein solches zentrales Selbst in uns, das ruhig und präsent, mitfühlend und verbunden, neugierig und kreativ, zuversichtlich, mutig und klar ist.
Aber natürlich gibt es Momente, in denen wir wenig Zugang zu diesen Führungsqualitäten haben, vor allem dann, wenn wir gestresst sind oder wenn viel auf dem Spiel steht. Was blockiert oder beschränkt unseren Zugang zu unserem zentralen Selbst ausgerechnet dann, wenn wir dessen Eigenschaften am nötigsten brauchen?
Die kurze Antwort lautet: Das machen Teile von uns, die gute Absichten haben und uns einfach nur beschützen wollen. Es sind Teile von uns, die immer noch versuchen, uns mit denselben Methoden zu schützen, die uns in der Vergangenheit geholfen haben, schwierige Situationen zu überleben, auch wenn diese Methoden im aktuellen Kontext vielleicht nicht angemessen sind.
Zu lernen, wie wir Zugang finden zu den schönen Führungsqualitäten unseres zentralen Selbst, auch wenn beschützende Teile von uns aktiviert sind, erfordert etwas innere Arbeit. Darüber möchte ich heute sprechen. Aber zuerst werde ich erklären, was diese beschützenden Teile sind und warum sie das tun, was sie tun.
Multiple Persönlichkeiten — keine schlechten Teile
Wir alle sind multiple Persönlichkeiten: Die menschliche Psyche ist ein komplexes System, das aus vielen Teilen besteht. Diese Teile sind wie innere Wesen, jedes mit seiner eigenen Persönlichkeit. Sie alle haben unterschiedliche Rollen und Ressourcen und erleben die Welt auf unterschiedliche Weise. In verschiedenen Situationen sind verschiedene Teile von uns aktiv und steuern unser Verhalten.
Zum Beispiel habt ihr vielleicht einen zärtlichen Teil, der oft aktiv ist, wenn ihr mit eurem Partner, eurem Kind oder eurem Haustier zusammen seid, während in einer Geschäftsbesprechung eher euer analytischer oder problemlösender Teil die Führung übernimmt. Es gibt keine schlechten Teile. Alle unsere Teile sind von Natur aus wertvoll und haben gute Absichten.
Aber…
Verbannte Teile und Beschützer
Wenn uns schlimme Dinge passieren, können einige unserer guten und wertvollen Teile in Rollen gedrängt werden, die auf lange Sicht schädlich sind. Wenn wir emotional überwältigende Erfahrungen machen, besonders in der Kindheit, wenn wir verletzlich sind, und wenn niemand da ist, der uns in dieser Situation hilft, dann kann Folgendes passieren:
Ein Teil von uns, der verletzt wurde und mit intensiven, schmerzhaften Gefühlen belastet ist, wird aus unserem Bewusstsein verdrängt und irgendwo weggesperrt. Dieser Teil wird zu einem verbannten Teil.
Und andere Teile übernehmen neue Rollen und versuchen, uns vor den schmerzhaften Gefühlen des verbannten Teils zu schützen oder den verbannten Teil davor zu bewahren, dass er noch mehr verletzt wird. Diese Teile werden also zu Beschützern.
Beispiel: Wie Teile neue Rollen übernehmen
Hier ist ein Beispiel: Angenommen, ein Kind wird von seinem Elternteil verbal oder körperlich misshandelt, wenn es nicht tut, was der Elternteil will. Für ein Kind ist es normal, in einer solchen Situation zu weinen. Aber wenn dieses Kind seine emotionale Not zeigt, rastet sein Elternteil noch mehr aus.
Nun wird der Teil des Kindes, der den schrecklichen Schmerz der Bindungsverletzung spürt, aus dem Bewusstsein verbannt, damit das Kind die Bindung zu seinem Elternteil aufrechterhalten kann, die für sein Überleben wichtig ist. Ein anderer Teil, der eine gesunde Wut auf den Aggressor empfindet, könnte ebenfalls verbannt werden, weil es für das Kind gefährlich ist, in dieser Beziehung wütend zu sein.
Einige andere Teile übernehmen schützende Rollen: Ein Teil des Kindes wird zum Pokerface und versteckt dessen Gefühle hinter einer stoischen Maske, um den Elternteil nicht zu provozieren. Ein anderer Teil wird extrem wachsam und beobachtet ständig die Stimmung der Menschen um ihn herum. Und ein dritter Teil wird zu einem strengen inneren Kritiker, der dem Kind gutes Benehmen beizubringen versucht, damit nie wieder etwas Schlimmes passiert.
Das Kind wird erwachsen. Er ist jetzt 40 Jahre alt und leitender Angestellter in einem multinationalen Unternehmen. Aber sein Pokerface, sein extrem wachsamer Teil und sein innerer Kritiker beschützen ihn immer noch auf dieselbe Weise wie damals, als er 5 Jahre alt war, denn sie stecken in der Vergangenheit fest. Sie glauben immer noch, dass sie ein kleines Kind beschützen, das mit einem gewalttätigen Elternteil zusammenlebt.
Proaktive Beschützer: Manager
Einige unserer Beschützer sind proaktiv, andere sind reaktiv. Die proaktiven sind die Manager. Sie versuchen, alles unter Kontrolle zu halten und unser Leben so zu organisieren, dass die verbannten Teile nicht getriggert werden und ihre schmerzhaften Gefühle nicht an die Oberfläche kommen.
Angenommen, ihr habt einen verbannten Teil, der mit Scham belastet ist und glaubt, er sei wertlos, unfähig oder nicht liebenswert. Manche eurer Manager versuchen dann, euch vor solchen Gefühlen zu schützen, indem sie zum Beispiel:
- zu viel nachdenken und sich Sorgen machen,
- sehr leistungsorientiert und strebsam sind, sich überarbeiten,
- Perfektionisten sind oder Mikromanagement betreiben.
Vielleicht ist einer eurer Manager sehr intellektuell und emotional distanziert, während ein anderer das Rampenlicht sucht, um zu beeindrucken. Und ein dritter ist womöglich harmoniesüchtig, unfähig, nein zu sagen, und stets bemüht, niemanden zu verärgern.
Reaktive Beschützer: Feuerlöscher
Obwohl unsere Manager unermüdlich arbeiten, kommt es hin und wieder doch einmal vor, dass Dinge in unserem Leben passieren, die einen unserer verbannten Teile triggern, so dass schmerzhafte Gefühle in unser Bewusstsein drängen. Dann treten unsere Feuerlöscher in Aktion. Das sind die reaktiven Beschützer, deren einziges Ziel es ist, die Flammen der Gefühle zu löschen, ohne Rücksicht auf die Schäden, die sie dabei anrichten.
Einige von ihnen tun das durch Ablenkung, indem sie sich soziale Medien anschauen oder Computerspiele spielen. Andere suchen Selbstberuhigung mit Essen, Sex, Alkohol oder anderen Substanzen. Manche machen uns plötzlich müde, verursachen mentale Blackouts oder Kopfschmerzen, um uns vor unangenehmen Gefühlen zu schützen. Manche weichen aus und ziehen sich zurück, andere reagieren aggressiv auf vermeintliche Kränkungen, weil Wut sich viel besser anfühlt als Schmerz oder Scham.
Unsere Manager hassen häufig unsere Feuerlöscher. Unsere Feuerlöscher sind daher wahre Helden: Erst retten sie uns vor akutem Schmerz und dann nehmen sie auch noch die Schuld auf sich.
Wenn unsere Teile führen
Unsere Beschützer arbeiten hart für uns. Wenn sie ihren Job gut machen, ist uns womöglich nicht einmal bewusst, dass irgendwo in unserem inneren System verbannte Teile verborgen sind, die schmerzhafte Gefühle tragen.
Je mehr verbannte Teile es gibt, desto wahrscheinlicher kommt es zu Konflikten zwischen Beschützern, die mit gegensätzlichen Strategien gegeneinander arbeiten. Es entstehen Polarisierungen zwischen Beschützern, wo beide Seiten immer extremer werden in ihren Bemühungen, den Aktionen der anderen Seite entgegenzuwirken.
Und je mehr verbannte Teile wir haben, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sich unsere Beschützer in unseren Begegnungen mit anderen Menschen zeigen, so dass wir vielleicht ein wenig steif wirken, wenn einer unserer Manager am Ruder ist, oder überreagieren, wenn ein Feuerlöscher getriggert wurde.
Hart arbeitende Beschützer neigen dazu, unser Bewusstsein zu übernehmen. Wenn sie aktiv sind, identifizieren wir uns mit ihnen und sehen die Welt durch ihre Augen. Ihre Welt ist eine gefährliche Welt, in der wir ständig vor emotionalem Schmerz bewahrt werden müssen, weil unsere Beschützer glauben, dass wir damit nicht umgehen können.
Und so verlieren wir dann den Zugang zu den schönen Führungsqualitäten unseres zentralen Selbst, zu dessen Fähigkeiten Gelassenheit und mitfühlende Verbundenheit zählen. Wenn unsere Beschützer die Führung übernehmen, ist das, wie wenn Wolken die Sonne verdecken. Die Sonne unseres zentralen Selbst scheint immer noch, aber sie wird von den Wolken verdunkelt.
Vertrauen in das zentrale Selbst aufbauen
Wie können wir den Wolken helfen, dass sie kleiner werden und der Sonne mehr Platz machen, damit sie hindurch scheinen kann? Wie können wir unseren Beschützern helfen, unserem zentralen Selbst mehr zu vertrauen und ihm die Führung zu überlassen? Unserem zentralen Selbst, das tatsächlich weise ist und von schmerzhaften Gefühlen gar nicht überwältigt werden kann?
Nun ja, Vertrauen kann wachsen, wenn da eine gute Beziehung ist. Wir müssen eine Beziehung aufbauen zwischen unserem zentralen Selbst und jedem einzelnen unserer Beschützer.
Unsere am härtesten arbeitenden Beschützer wissen möglicherweise noch nicht einmal, dass so ein zentrales Selbst in uns existiert, welches mit allem klarkommt. Wenn wir jedoch das warme und liebevolle Licht unseres zentralen Selbst auf unsere Beschützer scheinen lassen, dann werden sie sich dieser inneren Ressource bewusst und entspannen sich.
Selbstführung von außen gesehen
Wenn unsere Beschützer bereit sind, unserem zentralen Selbst Platz zu machen, so dass es die Führung im inneren System übernehmen kann, dann haben wir Selbstführung, d.h. Führung durch das zentrale Selbst.
So sieht Selbstführung von außen aus:
- Wir begegnen Herausforderungen und Provokationen mit Reife und Ausgeglichenheit.
- Wir kultivieren echte Verbundenheit und psychologische Sicherheit in unseren Beziehungen.
- Wir konzentrieren uns auf das, was wirklich wichtig ist, ohne uns ablenken zu lassen.
- Wir haben vollen Zugang zu unserer Kreativität und Weisheit.
- Wir sprechen mit Klarheit, Selbstvertrauen und Mut.
- Wir bewahren Ruhe, Neugier und Mitgefühl, selbst wenn wir unter Druck stehen.
Selbstführung von innen gesehen
Und so sieht Selbstführung im Inneren aus:
Wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn unser zentrales Selbst die Führung innehat. Wir sind sehr vertraut mit der somatischen Erfahrung, in diesem ruhigen und offenherzigen Zustand zu sein. Und weil uns dieser Zustand so vertraut ist, merken wir es, wenn ein Teil die Führung übernimmt und wir uns plötzlich anders fühlen: Ängstlich, wütend, angespannt, abgelenkt, traurig, einsam oder was auch immer dieser Teil gerade empfindet und erlebt.
Sobald wir uns bewusst werden, dass dies ein Teil von uns ist und nicht wir in unserer Gesamtheit, können wir ein wenig Abstand zwischen unserem Selbst und dem Teil schaffen. Wir können uns von ihm separieren, nicht um ihn wegzustoßen, sondern damit wir mit ihm in Beziehung treten können.
Wir können uns dem Teil zuwenden und mit ihm kommunizieren – still im Inneren. Wir können zu unserem Teil so etwas sagen wie: "Ich kann dich spüren. Du bist wirklich verärgert, nicht wahr? Was brauchst du im Moment von mir? Gibt es etwas, das ich wissen soll?" Und dann hören wir zu.
Oder wir sagen zu ihm: "Ich spüre deinen Ärger und verspreche dir, dass ich dir später zuhören werde. Bist du bereit, mir jetzt etwas mehr Raum zu geben und mich die Sache regeln zu lassen?"
Das "Ich", das hier spricht, ist das zentrale Selbst, das mit dem Teil in Beziehung tritt. Es ist das zentrale Selbst, das sich des Teils bewusst ist, aber selbst kein Teil ist.
Das zu lernen, auf unsere Teilen so einzugehen, erfordert einiges an innerer Arbeit. Wir müssen uns darin üben,
- unsere Teile wahrzunehmen,
- uns ein wenig von ihnen zu separieren, wenn sie die Führung übernommen haben, und
- ihnen mit Mitgefühl zuzuhören.
Aber wenn es in unserem inneren System viele verbannte Teile gibt, deren Wunden noch nicht geheilt sind, und wenn unsere Beschützer hyperaktiv sind, dann kann es für uns schon schwierig sein, unsere Teile überhaupt nur wahrzunehmen.
Selbstführungs-Coaching
Hier kann Selbstführungs-Coaching helfen, und das ist es, was ich mit meinen Klienten mache:
Ich leite sie an, nach innen zu gehen und mit den Teilen zu arbeiten, die in beruflichen Situationen häufig aktiviert werden. Ich helfe ihnen, Zugang zu den Eigenschaften des zentralen Selbst zu finden und Vertrauen zwischen ihrem zentralen Selbst und ihren Beschützern aufzubauen.
Von den Beschützern erfahren wir, was sie beschützen. Das weist uns den Weg zu den verbannten Teilen, die Heilung brauchen. Wenn die Beschützer dem zentralen Selbst genug vertrauen, um ihre Erlaubnis zu geben – was in der Regel etwas Verhandlung erfordert – können wir zu einem verbannten Teil gehen und ihm helfen.
Es ist die Verbindung mit dem zentralen Selbst des Klienten, die den verbannten Teil heilt. Der verbannte Teil muss dem zentralen Selbst zeigen, wie er gelitten hat, und er muss mit Mitgefühl wahrgenommen werden.
Ich helfe also meinen Klienten, diese mitfühlende Verbindung herzustellen und aufrechtzuerhalten. Und ich führe sie durch eine Reihe von Heilungsschritten, bis der verbannte Teil bereit ist, die extremen Überzeugungen und Emotionen, mit denen er belastet ist, loszulassen und sich in seinen von Natur aus wertvollen Zustand zurück zu verwandeln.
Wenn dies erreicht ist, können die Beschützer ihre Rollen verändern. Sie können etwas anderes tun oder sich einfach entspannen, weil dieses Maß an Schutz nicht mehr nötig ist.
Innere Arbeit zur Stärkung eurer Selbstführung
Selbstführung ist ansteckend. Wenn unsere Beschützer unserem zentralen Selbst die Führung überlassen, fühlen sich die Menschen um uns herum sicherer und ihre Beschützer entspannen sich, so dass auch sie mehr Zugang zu ihrem zentralen Selbst haben.
Ich möchte euch alle dazu ermutigen, eure innere Arbeit zu tun, um eure Selbstführung zu stärken, denn dadurch werdet nicht nur ihr euch viel besser fühlen in eurem Inneren, sondern es wird große Auswirkung auf die Menschen haben, mit denen ihr zusammenarbeitet. Dadurch wird es nämlich auch für sie sicherer, sich mutig und verletzlich zu zeigen, um zu wachsen.
Um eure Selbstführung zu stärken, übt euch darin,
- eure Teile wahrzunehmen,
- euch ein wenig von ihnen zu separieren und
- mit Neugier und Mitgefühl auf sie einzugehen, besonders auf diejenigen, die leiden und Hilfe brauchen.
Jedes Mal, wenn ihr euch aufgewühlt, angespannt oder unwohl fühlt, ist das ein Teil von euch, der durch irgendetwas aktiviert wurde und eure Aufmerksamkeit braucht.